Atemlos. Warum manche Berge einfach zu hoch sind.

Ich habe es einfach vergessen. Es ist mir doch tatsächlich entfallen. Ich habe es ziehen lassen, schleifen lassen, mich antreiben lassen. Das Einfache, das immer am schwierigsten scheint. Das Selbstverständliche, das immer aus der Wahrnehmung rutscht. Das Alltägliche, das scheinbar keine Aufmerksamkeit braucht.

Wovon ich philosophiere? Vom ach so fließenden Atem.

Nein, ich spreche nicht von dem flachen Atem, der uns täglich begleitet. Der lässig neben uns herschlendert oder uns hechelnd die Laufstrecke entlang treibt. Der uns im Gespräch Raum gibt oder ihn uns auch nimmt.

Manche von uns kennen ihn gar nicht. Gut möglich, dass du ihm noch nie begegnet bist. Denn wie gesagt, auch ich habe ihn mal eben aus dem Leben gekickt.

DER ATEM, DER MEINEN HORIZONT WEIT WERDEN LÄSST.
DER ATEM, DER NICHTS BRAUCHT, DER NICHTS FORDERT.
DER ATEM, DER MIR MÖGLICHKEITEN ERÖFFNET STATT SIE ZU VERSCHLIESSEN.

ATEMLOS

Meine Atemlosigkeit will ich in Worte fassen. Nicht aus Exhibitionismus oder dem Wunsch interessant zu wirken, sondern einfach aus dem Bedürfnis heraus ehrlich Luft zu holen. Luft, um sie zu ersticken, meine Atemlosigkeit.

Ich bin Coach. Ich bin Trainerin. Ich bin Unternehmensberaterin. Ich bin Illustratorin. Ich bin Texterin. Ich bin Bloggerin. Ich bin Unternehmerin. Ich bin Hausfrau. Ich bin Partnerin. Ich bin Sportlerin. Ich bin Freundin. Ich bin Tochter. Ich bin Schwester. Ich bin …. atemlos.

Atemlos, weil ich selten Nein zum Leben sage, weil ich glaube die Erwartungen anderer erfüllen zu müssen, obwohl mir die eigenen schon über den Kopf wachsen.

Berg heil!

Wenn du auf den Berg blickst, den du dir in mühsamer Kleinarbeit vor dir aufgebaut hast, wie hoch ist er, dieser Berg an eigenen und fremden Erwartungen?

Also ich bin eine wahre Meisterin der hohen Erwartungen. So ehrlich darf ich sein, ich verlange viel, nicht nur von mir sondern auch von anderen. So wächst er täglich dieser Berg an „wollen“, „müssen“ und „sollen“. Obwohl er mittlerweile schon schwindlige Höhen erreicht hat, schultere ich mir noch immer bereitwillig die Erwartungen der anderen. Sag „Danke“ und schlepp sie wie ein Depp auf meinen Berg.

So bin ich erst vor kurzem in die Falle der fremden Erwartungen getappt. Eine scheinbar harmlose Begegnung, die mit der Frage „Wie viele Blogbeiträge veröffentlichst du pro Monat?“ ordentlich an Fahrt aufnahm. Messerscharf traf mich diese Frage, bin ich mir doch sehr wohl bewusst, dass meine Veröffentlichungsfrequenz eher bescheiden ist.

Stockend, mit einem unsicheren Erklärungsversuch an der Hand, begegnete ich der Frage mit den Worten „Manchmal ist es nur ein Beitrag pro Monat, weil meine Zeit-Ressourcen mir einfach nicht mehr erlauben.“. Man kann ihn förmlich riechen, den unsicheren Erwartungsdruck. Mit feiner Nase wird er von meinem Gegenüber freudig aufgegriffen. Eilig wird ein großes Paket geschnürt. Im zuckersüßen Papier verpackt, begleitet von den klaren Worten „Mindestens ein Beitrag pro Woche muss als anständige Bloggerin drin sein!“ landet das große Paket „Erwartungen an eine Bloggerin“ vor meinen Füßen. Atemlos sage ich brav „Danke“, packe es ohne Widerrede ganz oben auf meinen Erwartungsberg und lasse meine ToDo Liste gedanklich wieder um einen Meter wachsen.

Wir kennen alle diese Momente, Menschen oder Situationen, die uns unaufgefordert ins Leben gespült werden. Keiner fragt uns, ob wir das Paket haben möchten. Oft gedankenlos wird es uns vor die Füße geknallt. Statt es dankend abzulehnen oder ihm einen verbalen Fußtritt zu verpassen, bücken wir uns, schultern es und schleppen es den Berg hoch.

Am Weg vom Bergblick zum Weitblick

Ich war heute am Weg von Zell am Moos nach Mondsee. Gerade im gedanklichen Dauersprint die ToDo Liste auf und ab geradelt, biege ich schwungvoll am Badeplatz am Irrsee ein. Noch schnell ein Foto für den Instagram Account schießen, denn auch dieses „Must-do“ ziert seit letztem Wochenende das Gipfelkreuz meines Erwartungsberges.

Förmlich gedrillt wurden wir im Bootcamp für angehende Influencer. „One picture per day!“ lautete das Credo, um auf der Instagram Welle mitzusurfen. Die Zukunft liegt in digitalen Bilderwelten, ohne Traffic dieserorts existieren wir faktisch nicht in der (sozialen) Welt!(?)

Und so stehe ich am Steg am wunderschönen Irrsee, mache meine Fotos und will schon wieder zum Auto hasten, da schreit mein Körper atemlos „Pause!!!“. Platz genommen am Steg, die Füße baumeln über dem Wasser, der Blick verliert sich in der Weite …

„Ich habe zu atmen vergessen!“ – ganz plötzlich geht dieser Satz mit meinen Gedanken spazieren.

Er läuft den Steg entlang, springt ins Wasser, schwimmt weit hinaus und lässt sich dort am Rücken treiben. „Ich habe zu atmen vergessen!“ – ganz entspannt lässt er sich von den Wellen hin- und herschaukeln. Ohne erhobenen Zeigefinger zeigt er mir, wie es sich anfühlt sich von der Leichtigkeit (ver)schaukeln zu lassen.

Da treibt sie nun die Atemlosigkeit, ganz unerwartet hat sie sich vom Acker gemacht. Ein tiefer Atemzug, die Schultern wandern weg von den Ohren, mit einem leisen Knacksen geht der Brustkorb auf. Tja, so fühlt sich Atemfülle an …

„Ich habe zu atmen vergessen!“
Das Vergessen taucht unter.
„Ich atme.“
Ist das was bleibt.

„Ich atme“

… ein Satz, eine Affirmation, ein kleiner Trick, der uns zum Innehalten auffordert. Stehenbleiben, den (Erwartungs)Berg betrachten und dann wohlüberlegt entscheiden, wie hoch wir steigen und ob dieser Gipfel den Weitblick wert ist.

„Ich entscheide“

… welchen Berg ich erklimme. Oft ist es nicht die Aufgabe, die uns zu groß scheint, vielmehr sind es die damit verbunden Erwartungen. In den lautesten Farben läuft der innere Film ab und zeichnet uns großartige Bilder vom „Haben-Müssen“, „Sein-Sollen“ und „Können-Müssen“. Ich entscheide, welche dieser inneren Bilder zu meiner Realität werden! Ich entscheide, ob ich mich von der Aufgabe fordern oder den Erwartungen überfordern lasse.

„Ich kommuniziere“

… meine Erwartungen an mich. Laut ausgesprochen oder vielleicht sogar aufs Papier gebracht, stehen sie dann in herausfordernder Haltung vor mir. Ein lautes „Ja“ zu den notwendigen Erwartungen, ein sicheres „Nein“ zu den unnötigen, prestigeträchtigen „Must-Dos“ schafft Klarheit und schenkt uns das Rüstzeug für die richtigen Berge.

P.S.: Welchen Erwartungsberg besteigst du derzeit?


Du willst automatisch über aktuelle Beiträge von *worte formen bilder* informiert werden? >>Blog abonnieren<<!