Zeit und Punkt. Die ewige Suche nach dem richtigen Timing

Die Kunst als Lehrmeister*in! Warum wir von der Street Fotografie fürs Leben lernen können.

Ganz leise kommt es in Bewegung. Wellenförmig schmiegt es sich an den Rand, bevor die Hitze zu groß wird. Aus den Wellen bilden sich Täler und Berge, aus der Hitze wird eine kochende Glut. Wie wild hüpfen sie auf und ab, nur nicht verkochen!

Sofort besänftigt wird die heiße Brüh – 3 Minuten im wohltemperierten Whirlpool und die Eier sind fertig.

Zeit und Punkt

Ganz genau wissen wir, wann das Frühstücksei das heiße Nass verlassen muss, um uns wohl zu schmecken. 3 Minuten in der kochenden Brüh und es ist perfekt – Zeit und Punkt definiert.

Das war’s dann aber auch schon mit unserer Zeit-Punkt-Präzision. Nirgendwo sonst haben wir das Timing so perfektioniert, wie beim Eierkochen. Andernorts quälen wir uns mit der Zeitpunktsuche. Schieben und schieben ihn hinaus, in der Hoffnung, dass vielleicht doch noch vom anderen Ende der Welt eine Helfer*in auftaucht, der oder die uns die Sache regelt.

Nur blöd, wenn da keiner ist, der für uns die Fäden in die Hand nimmt. Chancen bleiben ungenutzt, Konflikte werden nie gelöst, Verborgenes bleibt versteckt, Verschwiegenes wird nie gehört und viel Brodelndes kommt nie zur Ruhe.

Nur blöd, wenn sich dann wie aus dem Nichts die Ungeduld an unsere Seite stellt. Zu viel Zeit ist vergangen, auf den Punkt will sie es jetzt bringen. Die richtigen Worte zu sammeln, dafür bleibt jetzt keine Zeit. Nicht selten verbrennen wir uns mit der Ungeduld die Finger und erst recht die Zunge.

Beeil dich!

„Ich muss mich beeilen!“ nur einer der fünf Antreiber, die uns durchs Leben begleiten. Der Kopf fliegt den Schultern davon, in aerodynamischer Haltung hasten wir durchs Leben. Der Gedanke kaum zu Ende gedacht, schon kommen wir in Bewegung. 1, 2, 3, 4 Sachen schultern wir ohne Problem und auch die fünfte Sache jonglieren wir mit Leichtigkeit.

Obwohl unser „Beeil dich“ sich grundsätzlich keine Chance entgehen lässt, ist er/sie dennoch keine Meister*in des richtigen Zeitpunkts. Manch bedeutsamer Moment wird ungesehen von der Hektik verschluckt.

Den Moment einfangen

„Man ärgert sich am meisten über jene Bilder, die man nicht gemacht hat.“ – sagt der Fotograf an meiner Seite, Jörg Rusche. Er ist Meister darin, den richtigen Moment einzufangen. Oft recht alltäglich ist die Szenerie, die er aufs digitale Fotopapier bannt und dennoch haftet ihr etwas ganz Besonderes an. Denn sie existiert nur für einen Sekunden-Klick, um dann kaum gesehen in der Vergangenheit zu verschwinden.

Fotografie statt Mentaltraining

Durch und durch Mentaltrainerin gebe ich an dieser Stelle gerne meine Coaching-Weisheiten zum Besten. Nicht so dieser Tage! Heute darf mal die Kunst, im Speziellen die Street-Fotografie, unsere Lehrmeisterin sein. Wie können wir von dieser Profession das richtige Timing lernen?

Das kleine Regelwerk der Street-Fotografie

1.) Du musst schon da sein!

Die Street Fotografie: Um den richtigen Moment einzufangen, musst du schon da sein bevor „es“ passiert. Mit einem ersten Bild im Kopf bringt sich der/die Fotograf*in in Position, beobachtet die Szenerie und feilt geduldig an dem inneren Bild.

Das Leben: Dem richtigen Timing kann man nicht nachhetzen. Um den Zeitpunkt zu nutzen, müssen wir schon dort angekommen sein, im Moment, im Augenblick, wo wir die Chance mit aller Ruhe ergreifen können. Physisch und mental bringen wir uns im „Jetzt“ in Position und entwickeln ein Gespür für den „richtigen“ Augenblick.

2.) Folge deiner Intuition!

Die Street Fotografie: Das Bild im Kopf ist die eine Sache, die Realität die andere. Sich ganz einzulassen auf den Moment, ohne das innere Bild aus den Augen zu verlieren, ist jetzt die Kunst. Es ist die Intuition, die letztendlich entscheidet, wann der Auslöser gedrückt wird.

Das Leben: Wir haben meist ein ganz klares Bild im Kopf, wohin die Reise gehen soll. Die Gunst der Stunde zu nutzen, erfordert nicht selten eben dieses Bild loszulassen. Eine Tür geht zu, eine andere auf – jetzt kommt es auf die Intuition an, wann wir welchen Schritt setzen.

3.) Gib dem Zufall Raum!

Die Street Fotografie: In dieser Art von Fotografie wird nichts konstruiert, um die Szenerie zu verschönern. Menschen, Bewegungen, Architektur, Licht, Schatten … Elemente, die einfach da sind. Der Zufall mixt uns ein ganz spezielles Bild. Es liegt an der Fotograf*in, ob sie dieses zufällige („schöne“) Bild sehen kann oder nicht.

Das Leben: Um dem richtigen Timing den passenden Rahmen zu geben, konstruieren wir uns Welten, die uns die nötige Sicherheit zum Handeln geben. Der nüchterne Besprechungsraum für die ernsten Themen, das romantische Candle-Light-Dinner für den Heiratsantrag, die gemütliche Kaffeehausatmosphäre für das freundschaftliche Feedback-Gespräch … der Rahmen macht aber nicht immer das richtige Timing! Manchmal werden wir durch Zufall mit Menschen oder Situationen konfrontiert, die uns so manch neue Tür öffnen können, wenn wir wollen. Es liegt an uns, ob wir die Chance sehen und den zufälligen Moment ergreifen.

Die Kunst als LehrmeisterIn

Die Kunst ist ganz oft Lehrmeister*in. Sei es das geschriebene Wort, der illustrierte Text oder eben die Fotografie.

Mit dem Handy ist der Fotoapparat immer mit dabei. Vielleicht gönnst du dir beim nächsten Schnappschuss die Zeit, tauchst bewusst in den Moment ein, um dann Intuition und Zufall das Zepter zu überlassen.

(c) Jörg Rusche

Großes Danke an Jörg Rusche für den inspirierenden Austausch zum Thema Street Fotografie und seine wunderbaren Bilder!

Catch the moment!
Tanja Maria

Text: (c) Tanja Maria Peherstorfer
Bildmaterial: (c) Jörg Rusche


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